Seltenen Erbkrankheiten auf der Spur - Wie die Humangenetik Patienten hilft

Lange Zeit war Humangenetik ein Exotenfach der Medizin. Zu aufwändig und ungefähr waren die Unter­su­chungs­me­thoden und ihre Ergebnisse. Ein 2010 in die Diagnostik eingeführtes Verfahren lässt die Humangenetik in den letzten Jahren jedoch mehr und mehr aus dem Schattendasein heraustreten und in der modernen Medizin rasant an Bedeutung gewinnen. Vor allem wenn es darum geht, seltene (Erb-)krankheiten zu erkennen, wie Prof. Dr. med. Hanno J. Bolz, Direktor des Sencken­berg Zentrums für Humangenetik, in diesem Artikel erläutert. Er und seinTeam arbeiten eng mit dem Bürgerhospital Frankfurt und dem Clementine Kinder­hospital zusammen.

Als selten gilt eine Erkrankung in der Europäischen Union, wenn sie nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen betrifft. In Deutschland geht man von etwa vier Millionen Patienten aus, die an einer der ca. 7.000 verschiedenen Seltenen Erkrankungen leiden. In der gesamten EU sind es etwa 30 Millionen Menschen. Diese Patienten durchlaufen oft eine regelrechte Odyssee durch Kliniken und Praxen, ohne dabei auf Ärzte zu treffen, die ihre Erkrankung erkennen oder sogar mit ihr vertraut sind.

Sie sind die „typischen“ Patienten in der Humangenetik: Etwa 80 Prozent der Seltenen Erkrankungen sind durch einzelne Gendefekte – „monogen“ – bedingt und können alle Organsysteme und somit alle klinischen Fächer betreffen. Aus diesem Grund handelt es sich bei der Humangenetik um ein echtes „Querschnittsfach“. Wir sehen Patienten mit Stoff­wech­sel­er­kran­kungen ebenso wie solche, deren Hauptproblem beispielsweise in den Bereich der Augen­heil­kunde oder der Orthopädie fällt. Eine wichtige Aufgabe des Humangenetikers ist es daher auch, Betroffenen Kontakte zu speziellen Selbst­hil­fe­gruppen und klinischen Expertenzentren zu vermitteln.

Für die Genanalyse wird zunächst Blut entnommen.

Fortschritt durch Technik

Die Entwicklung der Humangenetik ist wie die keines anderen medizin­ischen Fachbereichs technologiegetrieben. In den letzten Jahren haben die stürmischen Fortschritte der Erbgut-Analyse-Techniken die Humangenetik und mit ihr die gesamte Medizin revolutioniert. Bis Mitte der 2000er Jahre stützte sich die Genanalyse (das „Lesen“ der Patienten-DNA auf der Suche nach einem krank­heits­aus­lö­senden Genfehler wird als „Sequenzierung“ bezeichnet) auf ein Verfahren, das sehr akkurat, aber auch sehr zeit- und kostenaufwändig war. Daher war allenfalls die Untersuchung weniger Genabschnitte möglich – ein bei genetisch heterogenen Erkrankungen, die durch Mutationen in hunderten Genen verursacht werden können (z. B. Netz­haut­erkran­kungen, Hörstörungen, psychomotorische Entwick­lungs­ver­zö­ge­rung und geistige Behinderung), nahezu aussichtsloses Unterfangen, das selten zum Auffinden der Ursache führte.

Dies hat sich mittlerweile durch ein ganzes Bündel neuer Techniken völlig geändert, die unter dem Begriff Next-Generation Sequencing, kurz NGS, zusammengefasst werden. Mittels NGS können, auf den Punkt gebracht, alle Gene, die man analysieren will, parallel aus dem Erbgut des Patienten angereichert und sequenziert werden. Dabei kann es sich um etwa ein Dutzend Gene handeln, deren Mutationen zu erblichem Diabetes führen, um hunderte, die mit Blindheit assoziiert sind – oder alle etwa 20.000 Gene des Menschen, wenn die Auffälligkeiten vermutlich genetisch bedingt, aber keiner bekannten Erkrankung zuordenbar sind.

Der Eingang von NGS in die humangenetische Routine-Diagnostik hat bedeutende Auswirkungen: Eine Diagno­se­sich­erung ist jetzt in vielen Fällen möglich, bei Netz­haut­erkran­kungen z. B. sogar bei etwa 70 Prozent der Patienten. Damit können die klinische Verdachts­diag­nose und der Erbgang gesichert werden. Letzterer bestimmt das Wieder­ho­lungs­ri­siko, was gerade bei Eltern eines erkrankten Kindes häufig eine wichtige Frage im Hinblick auf zukünftige Kinder ist. Humangenetische Beratungen sind daher heute viel präziser als früher, da sie oft auf Basis einer identifizierten Krank­heits­ur­sache durchgeführt werden können.

Im NGS-Gerät kann eine Vielzahl an Proben gleichzeitig analysiert werden. Eine Analyse dauert ca. 30 Stunden.

Verdachts­diag­nose sichern oder korrigieren

Durch das Feststellen einer eindeutig krank­heits­ur­säch­lichen genetischen Veränderung kann die erste Verdachts­diag­nose gesichert, mitunter aber auch weiter präzisiert und in einigen Fällen korrigiert werden. Ein gutes Beispiel sind die frühkindlichen Hörstörungen, denen in den meisten Fällen eine genetische Ursache zugrunde liegt. 70 Prozent dieser Kinder haben eine isolierte Hörstörung, aber bei 30 Prozent liegen Syndrome vor, bei denen zusätzlich andere Organe abseits des Innenohrs betroffen sind. Über die Hörstörung hinausgehende Symptome – oft das Sehen, den Herzrhythmus, die Nieren- oder Schilddrüsenfunktion betreffend – können häufig erst nach Jahren auffallen, wenn wertvolle Zeit für Gegenmaßnahmen bereits verstrichen ist. Konsequenz war bis vor Kurzem, dass man den Eltern empfahl, das Kind regelmäßig augenärztlich, kardiologisch und internistisch untersuchen zu lassen, um die wichtigsten Syndrome rechtzeitig zu erkennen. Eine enorme psychische Belastung, denn es bedurfte unauffälliger Untersuchungs-Befunde über Jahre hinweg, um Entwarnung geben zu können.

Hierbei besonders nennenswert ist das Usher-Syndrom: Es liegt bei 10 Prozent der Kinder mit angeborener Innen­ohr­schwer­hö­rig­keit vor. Die bei diesem Syndrom später hinzukommende stetig fortschreitende Netzhautdegeneration führt oft zur Erblindung.

 

Heute können wir die wichtigsten Gene, deren Defekte zu isolierten oder syndromalen Hörstörungen führen, simultan untersuchen. Das Ergebnis bedeutet für die meisten Eltern eine Entlastung: Eine Mutation in einem reinen Hörstörungs-Gen bedeutet, dass nichts mehr hinzukommt, regelmäßige Vorstellungen bei anderen Fachärzten erübrigen sich dann. Wird hin­gegen eine Mutation in einem Syndrom- Gen gefunden, muss der entsprechende Facharzt gezielt konsultiert werden: beim Usher-Syndrom der Augenarzt, nicht aber der Kardiologe oder ein anderer Facharzt.

Die ausführliche Beratung der Patienten und ihrer Angehörigen ist wichtiger Bestandteil der Arbeit von Prof. Dr. med. Hanno J. Bolz und seinem Team.

Therapie-Hoffnung in der Zukunft

Die humangenetische Abklärung hat also eine individuell viel besser anpassbare medizin­ische Betreuung zur Folge. In vielen Fällen, wie auch beim Usher-Syndrom, bedeutet das noch nicht, dass dann auch spezielle therapeutische Optionen zur Verfügung stehen. Es ist aber wichtig, bereits frühzeitig die richtigen Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen und auf die relativ früh einsetzende Nachtblindheit des Kindes nicht erst zu reagieren, wenn dieses sie aufgrund erheblicher Schwierigkeiten erstmals selbst wahrnimmt. Zudem besteht durchaus Hoffnung, dass auf Basis von Gentherapie-Verfahren oder mittels sogenannter „Genchirurgie“ in der Zukunft Möglichkeiten zur gezielten Kompensation bekannter Gendefekte zur Verfügung stehen werden.

Bei bestimmten erblichen Krebs­er­kran­kungen ergeben sich bereits heute nützliche Konsequenzen für die individuelle Chemo­therapie, wenn bestimmte genetische Ursachen nachgewiesen werden können.

Fachlicher Austausch: Prof. Bolz und der Wissen­schaft­liche Leiter des Zentrums, Prof. Dr. Ulrich Zechner, besprechen die Ergebnisse der Genanalyse.

Diagnostik und Wissen­schaft

Früher handelte es sich bei der Erforschung zur Identifizierung neuer Gene für Erbkrankheiten und der Gendiagnostik um streng getrennte Bereiche. Ein faszinierender Aspekt der modernen Humangenetik besteht darin, dass beides nicht mehr eindeutig zu trennen ist, da die gleichen Analysemethoden verwendet werden.

Dies lässt sich gut an der Exom-Sequenzierung (Whole-Exome Sequencing, WES), einer sehr umfassenden Anwendung des NGS-Verfahrens, demonstrieren: Hier werden alle menschlichen Gene erfasst und können stufenweise ausgewertet werden. Findet sich z. B. keine Mutation in einem der bekannten ca. 200 Gene für Netz­haut­de­ge­ne­ra­ti­onen, so können nachfolgend die verbleibenden (knapp 20.000) Gene auf verdächtige Veränderungen ausgewertet werden. Dabei können auch ganz neue Krankheitsgene entdeckt werden. Bisher war dies eine ausschließliche Domäne der Wissen­schaft. Ein heute in der modernen Diagnostik tätiger Humangenetiker sollte daher auch über weitreichende wissenschaftliche Erfahrung verfügen.

Eine sehr weitgehende Datenerfassung wie beim WES verlangt, dass man die Erfolgs­aus­sichten, die Krankheitsmutation unter den etwa 25.000 anfallenden Genvarianten auch zu erkennen, im Vorwege individuell kritisch beurteilt. Zudem muss der Patient bzw. dessen Eltern) festlegen, was er erfahren möchte: Sollen auch relevante Mutationen, die mit der ur­sprünglichen Fragestellung nichts zu tun haben, aber ggf. das Risiko für eine andere Erkrankung erhöhen können, mitgeteilt werden?

Mit der Möglichkeit, die Gene sehr umfassend zu analysieren, ist die Beratung noch wichtiger geworden. Damit ein Patient überhaupt entscheiden kann, ob er eine genetische Diagnostik in Anspruch nehmen möchte, muss er umfassend und verständlich informiert werden. Darüber hinaus kann das volle Potenzial der oben beschriebenen neuen Methoden nur dann ausgeschöpft werden, wenn der Humangenetiker in engem Austausch mit den Ärzten steht, die seinen Patienten betreuen.

Das Nischendasein der Humangenetik ist vorbei. Ihr Platz in der Medizin ist nicht mehr am Rand, sondern mittendrin.

Prof. Dr. med. Hanno J. Bolz,
Direktor des Sencken­berg Zentrums für Humangenetik

 

Sencken­berg Zentrum für Humangenetik

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