Wenn angeborene Fehlbildungen den Start ins Leben erschweren

Mehr als 4.300 Kinder kommen jedes Jahr am Bürger­hospital Frankfurt zur Welt. Die allermeisten Neugeborenen sind gesund und können schon kurz nach der Geburt ins Familienleben nach Hause entlassen werden. Doch einige Kinder besitzen angeborene Fehlbildungen und benötigen unmittelbar nach der Geburt eine kinderchirurgische Betreuung. Am Bürger­hospital Frankfurt wird alles darangesetzt, um diese Kinder schon vor der Geburt optimal zu betreuen und die bestmögliche Behandlung für die Neugeborenen zu gewähr­leisten.

Wenn bei Dr. med. Sabine Grasshoff-Derr das Telefon klingelt, sind es nicht selten die Kolleg:innen aus dem Pränatalzentrum, die soeben Eltern eine beunruhigende Diagnose überbringen mussten. Sie bitten die Chefärztin der Klinik für Neugeborenen-, Kinderchirurgie und -urologie, dazuzukommen und sich mittels Ultraschall ein eigenes Bild zu verschaffen. Denn wenn feststeht, dass ein ungeborenes Kind eine auffällige Entwicklung zeigt, braucht es eine frühzeitige Beurteilung verschiedener Spezialisten.

„Den Gynäkologen ist es wichtig, dass die Schwangerschaft möglichst weit ausgetragen wird, und sie prüfen, was vorgeburtlich bereits zur Entlastung geleistet werden kann. Die Neonatologen wollen, dass das Kind nach der Geburt eine gute Anpassung zeigt und stabil in eine Operation geht. Die Kinderanästhesisten prüfen genau, wie sich eine gut verträgliche Narkose realisieren lässt. Das Augenmerk von uns Kinderchirurgen liegt schließlich auf der nachhaltigen Korrektur der Fehlbildungen und inwieweit eine frühe Operation für eine möglichst normale Entwicklung des Kindes zuträglich ist“, skizziert Dr. Grasshoff-Derr die Zusammenarbeit der verschiedenen medizinischen Fachrichtungen am Bürger­hospital.

In einem wöchentlichen Konzil besprechen deswegen die Chefärzt:innen der perinatalen Kliniken alle Kinder, die von Fehlbildungen betroffen sind, und wägen alle Kriterien gegeneinander ab, um gemeinsam für jede Schwangere und jedes Kind einen optimalen Geburtstermin und Operationshergang zu finden: „Wir entscheiden bereits in der Schwangerschaft, welche medizinische Behandlung das erkrankte Kind nach der Geburt benötigt und ob es womöglich notwendig ist, die Mutter in ein anderes Krankenhaus zu verlegen.“ Denn etwa bei schweren Fehlbildungen am Herzen, am Rückenmark oder bei seltenen Tumoren bedarf es anderer Spezialkliniken.

Die Kinderchirurgie des Bürger­hospitals Frankfurt ist auf die Behandlung von Fehlbildungen der Bauchdecke, des Zwerchfells, des Magen-Darm-Trakts und des Uro-Genital-Trakts spezialisiert. Das Erkrankungsspektrum ist vielfältig, die Ausprägungen variieren stark, jedoch sind sie fast immer stark gesundheitsgefährdend bis lebensbedrohlich. Die langfristigen Auswirkungen sind ebenfalls sehr individuell: Während einige Fehlbildungen sehr gut behoben werden können, können andere bleibende körperliche Beeinträchtigungen zur Folge haben.

Letzteres kann zum Beispiel der Fall sein, wenn ein Kind mit einer Zwerchfellhernie zur Welt kommt. Wenn sich während der embryonalen Entwicklung das Zwerchfell nicht vollständig schließt, können Magen- und Darmanteile in den Brustkorb gelangen und dort die Ausbildung der Lunge maßgeblich beeinträchtigen. Je nachdem, wie gut das Lungengewebe entwickelt ist, wie groß der Anteil der Bauchorgane im Brustkorb ist und in welchem Entwicklungsstadium diese dorthin gelangt sind, können die Kinder nach der operativen Rückverlagerung der Bauchorgane und Behebung der Lücke vollständig genesen sein oder eben eine deutlich eingeschränkte Lungenfunktion zurückbehalten.

Eine Fehlbildung, die häufig ohne bleibende Gesundheitsschäden operativ behoben werden kann, ist die sogenannte Gastroschisis. Bei dieser Bauchspalte schließt sich die Bauchdecke bei der Entwicklung des Fötus nicht vollständig. Darmanteile gelangen nach außen und entwickeln sich im Fruchtwasser weiter. Der Darm muss nach der Geburt an seinen richtigen Platz in den Bauchraum rückverlegt und die Bauchdecke verschlossen werden. Je nachdem, wie viel Darm durch die Bauchspalte nach außen gelangt ist und wie viel Platz im Bauchraum zur Verfügung steht, kann der Verschluss der Bauchdecke nicht immer sofort geschehen oder es bedarf mehrerer Teiloperationen. Denn die Organe dürfen im Körper auf keinen Fall einem zu hohen Druck ausgesetzt werden, um die Durchblutung nicht zu gefährden.

Grundsätzlich muss bei allen Fehlbildungen sorgfältig abgewogen werden, wann ein günstiger Operationszeitpunkt ist bzw. wie viele Zwischenschritte erfolgen müssen. Manche Fehlbildungen sind lebensbedrohlich, sodass direkt nach der Geburt operiert werden muss. In anderen Situationen kann so lange abgewartet werden, bis die Kinder reifer sind. Wieder andere Fälle brauchen zunächst einen kleinen Eingriff als Überbrückung, bis die Kinder stabil genug sind für die große, korrigierende Operation.

Bei einer Analatresie etwa, wenn der Enddarm des Kindes fehlt oder wenn der Darmausgang als Fistel in der Scheide oder der Harnröhre mündet, ist nach der Geburt ein sofortiger Eingriff notwendig. Die Kinder erhalten einen vorübergehenden künstlichen Darmausgang über die Bauchdecke. So kann sich der Darm entleeren und schwere Infektionen des Uro-Genital-Traktes werden verhindert. Die Neugeborenen haben anschließend Zeit zu wachsen, bevor in einer mehrstündigen Operation die umfassende Korrektur der Fehlanlagen erfolgt und Harnröhre, Scheide und Enddarm rekonstruiert werden. „Priorität hat immer zuerst die Entlastung des Systems, die endgültige Korrektur kann warten. Denn eine mehrstündige Operation samt der langen Anästhesie wird besser von den Kindern toleriert, wenn diese schon einige Wochen oder Monate alt sind“, begründet Dr. Grasshoff-Derr, weswegen Neugeborene nicht immer direkt operiert werden.

Auch bei Fehlbildungen an Nieren oder Harnröhren muss so zeitig wie möglich eine Entlastung geschaffen werden. Zum Beispiel bei Kindern mit angeborenen Harnröhrenklappen, die unterhalb der Blase das Abfließen des Urins verhindern. Blase, Harnleiter und Nieren sind dann gestaut und die Nieren können dauerhaft geschädigt werden. Nicht selten werden die Kinder deswegen sogar dialysepflichtig. Ist bereits in der Schwangerschaft im Ultraschall zu sehen, dass die Nieren durch eine solche Fehlbildung gestaut sind, wird manchmal noch vor der Geburt ein Stent über die fetale Bauchdecke eingesetzt, über den der Harn aus der Blase ins Fruchtwasser abgeleitet wird. Sind die Kinder auf der Welt, wird der Stent kinderchirurgisch entfernt und ein Katheter über die Bauchdecke in die Blase eingesetzt. Denn auch in diesem Fall kann die Fehlbildung nicht sofort behoben werden. Erst wenn die Kinder etwas größer sind, können diese sogenannten Urethralklappen über eine Blasenspiegelung geöffnet und entfernt werden. Bis dahin werden die Kinder in der Nephrologie des Clementine Kinder­hospitals medizinisch betreut. In enger Abstimmung mit den dortigen Nephrologen wird entschieden, wann die urologische Operation am Bürger­hospital erfolgen soll.

In der Zeit bis zur finalen Korrektur müssen die Eltern lernen, mit der Fehlbildung ihres Kindes umzugehen. Dies fällt nicht immer leicht, vor allem, wenn die Fehlbildung sehr groß und sichtbar ist. Dies ist zum Beispiel der Fall bei einer Omphalozele, einem Nabelschnurbruch. Das heißt, im ersten Trimester der Schwangerschaft verlagern sich Organe aus dem Bauchraum in die Nabelschnur (meist Darm oder Leber), verbleiben dort und wachsen darin weiter. Es entsteht ein hervorstehender Bruchsack, der klein wie ein Tischtennisball oder auch groß wie ein Handball sein kann und von der durchscheinenden Haut der Nabelschnur umgeben ist.

Der Anblick ist für die Eltern oft schwer auszuhalten, vor allem wenn es sich um eine sehr große Omphalozele handelt und ein großer Teil der Bauchdecke betroffen ist. Ab einer gewissen Größe können die Organe nicht direkt nach der Geburt in den Bauch rückverlegt werden, denn die Bauchhöhle konnte sich wegen der verlagerten Organe nicht optimal ausbilden. Es braucht Zeit, bis das Kind so weit gewachsen ist, dass die Bauchdecke ausreichend gedehnt wurde und genügend Platz im Bauch vorhanden ist.

Dr. Grasshoff-Derr kann die schwierige Situation nachvollziehen: „Für die Eltern ist es oft belastend, da sie neben den Sorgen um die Gesundheit ihres Kindes bis zur Operation jeden Tag mit dem Anblick des Bruchsacks konfrontiert sind, der zudem auch besonderer Pflege bedarf. Aber für ein optimales Ergebnis ist es wichtig, geduldig zu sein und unnötige Operationen zu vermeiden.“

Neben der Geduld benötigen Eltern von Kindern mit Fehlbildungen vor allem eines: Akzeptanz. „Die Eltern müssen die Erkrankung ihres Kindes im ersten Schritt annehmen. Dann können sie mit der Situation einfacher umgehen und auch die Pflege besser handhaben.“ Damit dieser Prozess gelingt, werden am Bürger­hospital Eltern von Anfang an aufgefangen. Während der Schwangerschaft erfolgen engmaschige Kontrollen und ausführliche Beratungen der Geburtshilfe, der Neonatologie, Pädiatrie und der Kinderchirurgie. „Wir bieten viele Gesprächsmöglichkeiten an und nehmen alle Fragen ernst. Wir geben ihnen seriöse Quellen zur Eigenrecherche an die Hand, um sie nicht mit ‚Dr. Google‘ allein zu lassen“, erklärt Dr. Grasshoff-Derr die Unterstützung von medizinischer Seite. Aber auch das psychosoziale Team und die Seelsorge sind schon vor der Geburt für die Eltern da. In einigen Fällen werden Selbst­hil­fe­gruppen empfohlen oder Kontakte zu anderen Eltern mit größeren betroffenen Kindern vermittelt.

„Das Gute ist, dass wir hier am Bürger­hospital auf die Behandlung solcher Fehlbildungen spezialisiert sind und über viel Erfahrung verfügen. Deswegen wenden sich viele Eltern mit Auffälligkeiten in der Schwangerschaft an uns. Wir können den Eltern für ihre Situation passende Schritte aufzeigen. Das schafft Vertrauen und hilft ihnen, mit der Fehlbildung ihres Kindes möglichst entspannt umzugehen.“

Neben den Gesundheitssorgen und den Berüh­rungs­ängsten bringen Eltern oft auch Fragen nach bleibenden Narben mit. Doch Dr. Grasshoff-Derr kann in vielen Fällen die Eltern beruhigen: „Wenn man die Schnitte bei der Operation geschickt setzt, etwa um den Nabel herum, dann heilt die Narbe in der Nabelfalte und ist oft kaum sichtbar.“

Die Zuversicht, die die passionierte Chirurgin den Eltern vermitteln will, kommt nicht von ungefähr: „Kinder haben eine unglaubliche Heilungstendenz. Man kann den Wunden sozusagen beim Heilen zuschauen und es bleiben meist nur kleine Narben zurück. Selbst aus wenig Gewebe können wir viel rekonstruieren. Das fasziniert mich immer wieder.“

Diese Begeisterung motiviert sie seit 29 Jahren, Kindern immer wieder ganz individuell zu helfen: „Ich wollte schon als Jugendliche unbedingt Ärztin werden. Nach einem Praktikum im OP in den Schulferien wusste ich dann, dass ich in der Chirurgie arbeiten möchte. Ich wollte aber rekon-struktiv und kreativ tätig sein. Das ist bei angeborenen Fehlbildungen der Fall, denn jede Situation und jedes Kind ist so verschieden, da gilt es, ein ganzes Spektrum an Möglichkeiten parat zu haben und maximal kreativ zu sein. Zumal alles, was wir in der Neuge­bo­re­nen­chi­rurgie rekonstruieren, funktionieren und noch mitwachsen soll, um dem Kind zu einem möglichst unbeschwerten Leben zu verhelfen.“

Neben all diesen positiven Aspekten in der Kinderchirurgie ist für sie auch der hohe medizinische Anspruch ein Ansporn: „Es kommt immer häufiger vor, dass Kinder viel zu früh auf die Welt kommen. Wenn wir ein Kind in der 23. Schwanger­schafts­woche operieren müssen, das kaum 400 Gramm auf die Waage bringt, dann ist das in vielerlei Hinsicht komplex.“ Nicht nur, dass die zu operierenden Körperteile und damit auch die Instrumente sehr klein sind, es gilt auch zu berücksichtigen, dass für so kleine Kinder der Blutverlust streng überwacht werden muss. Um Stress zu vermeiden und um die Körpertemperatur konstant zu halten, werden die Frühgeborenen zudem im wärmenden Inkubator auf der neonatologischen Station operiert, die Chirurg:innen tragen Lupenbrillen. Solche Operationen sind nicht nur handwerklich eine große Herausforderung, sondern mitunter auch emotional. „Auch für uns sind manche Situationen aufreibend, denn wir setzen unser ganzes Können ein und haben gerade bei Extremfrühchen den Ausgang doch nicht immer in der Hand.“

Letztlich ist auch in solchen Situationen ein ehrlicher und offener Umgang mit den Eltern unabdingbar. Gemeinsam mit dem Ärzte- und Pflegeteam der Klinik für Neonatologie versuchen Dr. Grasshoff-Derr und ihre Kolleg:innen der Kinderchirurgie, den Eltern alle Risiken, aber auch alle Chancen so umfassend, aber auch so einfühlsam wie möglich zu erläutern. Auch hier kommt ihre Zuversicht zum Tragen: „Zum Glück ist es nur ganz selten, dass wir Kindern nicht helfen können. Viel öfter können wir miterleben, dass Kinder einen enormen Überlebenswillen haben und sich gut entwickeln und ge-deihen. Wenn wir sehen, wie sie sich an ihre Einschränkungen anpassen und gleichzeitig so viel Lebensfreude ausstrahlen, ist das eine immense Bestätigung für unsere Arbeit.“

 

Kinderchirurgie am Bürger­hospital

Die Klinik für Neugeborenen-, Kinderchirurgie und -urologie am Bürger­hospital versorgt Kinder von der Geburt bis ins Jugendalter. Im Jahr 2022 wurden von insgesamt 6.402 untersuchten Kindern und Jugendlichen 1.168 operiert, davon 223 Kinder unter einem Jahr. Wenn möglich erfolgt die Behandlung ambulant, um die Kinder möglichst in ihrer gewohnten Umgebung zu belassen. Neben angeborenen Fehlbildungen versorgt die Klinik auch urologische und gastroenterologische Erkrankungen sowie Knochenbrüche und Verletzungen, darunter auch Kindergarten- und Schulunfälle im Durchgangsarzt-Verfahren.

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