Junge oder Mädchen? Neue Sprechstunde zur Geschlechtsidentität am Clemi
Am Clementine Kinderhospital hat sich ein neuer Behandlungsschwerpunkt etabliert, die Frankfurter Sprechstunde für Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung bei Kindern und Jugendlichen. Eltern, deren Kind, ob Junge oder Mädchen, über ein kurzzeitiges Experimentierstadium hinaus dauerhaft den starken Wunsch nach Zugehörigkeit zum anderen Geschlecht hat, können sich hier Rat holen.
Herr Daxer, Sie leiten die neu etablierte Sprechstunde im Clemi. Wie kamen Sie dazu, sich mit dem Thema Geschlechtsdysphorie bei Kindern auseinanderzusetzen?
Als junger Assistenzarzt habe ich Workshops besucht, die mein Interesse weckten. Auch, weil bereits damals erkennbar war, dass hier „die Not groß“ war. Bereits vor 15 Jahren hatte einer meiner Kollegen eine Schwerpunktpraxis für Transgender in München und bat mich um Unterstützung in der Behandlung seiner Patienten. Ich sagte zu und empfand dies sofort als sehr dankbare Aufgabe. Und jetzt bieten wir im Clementine Kinderhospital eine wöchentliche Sprechstunde an. Auch Dr. med. Thomas Lempp, Chefarzt unserer Psychosomatik, ist seit Jahren mit dieser Thematik vertraut. Die Universitätsklinik Frankfurt am Main, in der er vorher tätig war, führt bereits seit 1989 Beratungen und Sprechstunden für „Transgender-Kinder“ durch
und war damit die erste Klinik überhaupt in Deutschland.
Was empfinden junge Menschen, wenn sie sich in ihrem Körper nicht wohlfühlen und mit ihrer vorgegebenen Geschlechtszugehörigkeit nicht zurechtkommen?
„Dieser Kopf gehört nicht zu diesem Körper“, ist ein Satz, mit dem sich ein junger Patient im Spiegel beschreibt oder „Mein Körper passt nicht zu mir!“. Schon früh, oft bereits im Kindergarten- oder Grundschulalter, stellt sich dieses Gefühl ein. Mit dem Eintritt der körperlichen Pubertätsentwicklung wird der Leidensdruck dann meist sehr stark. Ein Mädchen, das sich als Junge fühlt, wird die sich entwickelnden Brüste als belastend empfinden und sie durch Kleidung oder durch Bandagen zu verstecken versuchen. Wenn der ausdrückliche und drängende Wunsch, dem anderen Geschlecht anzugehören, sechs Monate oder länger anhält und zu Leiden führt, so besteht der Verdacht auf das Vorliegen einer Geschlechtsdysphorie. Dieser Begriff hat die früher gebräuchliche „Geschlechtsidentitätsstörung“ oder den „Transsexualismus“ abgelöst. Schon immer gab es feminine Jungs und maskuline Mädchen, die möchten aber nicht einem anderen Geschlecht angehören. Das Empfinden eines Betroffenen, „sich im falschen Körper zu befinden“, stößt auch heute noch im familiären oder schulischen Umfeld auf Unverständnis oder gar Ablehnung. Früher wurde dieses Gefühl daher oft nicht geäußert, Eltern und Angehörige hatten häufig das Gefühl, dass sich etwas Verbotenes, eine „krankhafte Sexualität“ zeigt. Das ehemalige Tabu-Thema hat jedoch eine Veränderung erlebt und den Trans-Jungen und Trans-Mädchen wird mittlerweile mehr Verständnis und Unterstützung von Eltern, Lehrkräften und Freundinnen und Freunden entgegengebracht.
Kommen die Kinder, die Jugendlichen in der Schule damit klar?
Schulkameradinnen und -kameraden sollten über die Transidentität ihrer Mitschüler Bescheid wissen, dann sind sie meist offen der Situation gegenüber. Auch die Lehrkräfte sind heute eher bereit, auf die spezielle Situation Rücksicht zu nehmen. Dazu gehört das Akzeptieren einer Namensänderung - wenn die Familie von Julian bittet, dass man ihn künftig Theresa nennt, oder Hannah jetzt Mark heißen möchte. Wichtig ist, dass sich auch die Eltern unterstützend einbringen.
Wer sucht die Sprechstunde auf? Wie beraten Sie?
Es melden sich beispielsweise Eltern, die das Gefühl haben, dass ihr Junge weibliche Züge zeigt, die klassisch weiblichen Spielsachen bevorzugt, auch zu weiblicher Kleidung tendiert, sich nicht jungenhaft benimmt. Ihnen rate ich, in Kindergarten und Schule die weitere Entwicklung zu beobachten ohne einzugreifen und sich zu Verlaufsuntersuchungen wieder vorzustellen. Familien brauchen häufig Beistand und das Gefühl der Sicherheit und Zusammenarbeit, um die hohe Ungewissheit, wie die Entwicklung des Kindes weitergeht, auszuhalten. Jugendliche kommen und holen sich Rat, bis sich im längeren Verlauf herausstellt, ob das Zugehörigkeitsempfinden zum anderen Geschlecht tatsächlich beständig ist – trotz aller Schwierigkeiten, die sich dem jungen Menschen in den Weg stellen. Bleibt das Gefühl der Transidentität mit entsprechendem Leidensdruck jahrelang bestehen, ist das sicher keine „Modeerscheinung“. Der junge Mensch wird alles daransetzen, seinem gefühlten Geschlecht anzugehören. Hormonbehandlung, Operation, Namensänderung können je nach Einzelfall sinnvolle Schritte sein. In der Sprechstunde geben mein Patient, die Eltern und ich gemeinsam die Geschwindigkeit vor, in der eine Behandlung stattfinden wird (shared decision making). Ich dränge nicht zu weiteren Schritten, hinterfrage aber, ob die Entscheidung des jungen Menschen nachvollziehbar ist. Minderjährige müssen die Reife haben, alle Auswirkungen einer körperverändernden Therapie zu verstehen. Bei bestehenden Zweifeln bremse ich und gebe zunächst den Rat zum Abwarten, bevor zum Beispiel vorschnell eine irreversible Hormonbehandlung in die Wege geleitet wird. Beginnt beispielsweise eine junge Frau mit der Einnahme männlicher Hormone, treten nicht mehr reversible Veränderungen des Körpers ein: Die Stimme wird tiefer, der Bartwuchs setzt ein, das Gesicht und die Körperformen werden maskuliner, auch das Verhalten kann anders werden. Das muss klar sein! Mein wichtigster Ansatz bei der Beratung in der Sprechstunde: Jede Familie ist anders, jeder junge Mensch ist anders. Was ist sinnvoll? Was ist nötig in der Behandlung? Keine Diskussion zu: „Was ist typisch männlich, was ist typisch weiblich“. Jeder junge Mensch wird ganz individuell angesprochen. Die Eltern werden eng in den gesamten Prozess einbezogen. Es erfolgen eine gründliche Diagnostik und ausführliche Beratung, auch über alle möglichen Risiken. Es sind sehr dankbare junge Menschen, die in die Sprechstunde kommen. Auch wenn es mal Unstimmigkeiten gibt, alle kommen wieder.
Bieten Sie nur die ambulante Behandlung oder auch eine stationäre Therapie?
Auch stationäre Behandlung bzw. Unterstützung wird angeboten. Diese kann dann auch mal über mehrere Monate gehen. Ziel ist Stabilität in der neuen Identität und Krisen vorzubeugen, denn eine Geschlechstdysphorie ist manchmal mit einer erhöhten Suizidalität verbunden. Geschlechterrollen können im geschützten Rahmen der Klinik „ausprobiert“ werden. Alle unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind geschult im Umgang mit Patienten, die sich trans fühlen, fragen, wie sie angesprochen werden möchten, nehmen auch Namenswechsel problemlos an.
Der letzte Schritt ist die geschlechtsangleichende Operation. Ihre Erfahrungen damit?
Eine Mastektomie (Entfernung der Brustdrüsen) wird in selteneren Fällen bereits im späten Teenageralter durchgeführt. Die Operation der Genitalien wird bisher frühestens mit 18 Jahren empfohlen, dann ist auch keine Unterschrift der Eltern mehr erforderlich. Operationen werden oft nicht am Heimatort, sondern auswärts durchgeführt. In Berlin, Hamburg, Düsseldorf gibt es zum Beispiel entsprechende Kliniken, in Frankfurt am Main ist das Markus-Krankenhaus führend. Ich empfehle, die Klinik vorher anzusehen. Wichtig ist ein absolutes Vertrauensverhältnis zu Ärzten und Personal. Nach Jahren der Leidenszeit freuen sich tatsächlich viele auf die Operation. Glück und Freude über den endgültigen Schritt durch die Operation begleiten
die jungen Menschen. Suizidalität ist dann oft kein Thema mehr. Die jungen Frauen und Männer sind extrem treu. Noch über viele Jahre halten sie den Kontakt zu uns. Und es ist für mich ein gutes Gefühl, bei einem Wiedersehen die Erfolge zu sehen und Komplimente machen zu können. Wenn man sein Gegenüber lange nicht gesehen hat, sind die Veränderungen besonders deutlich. Ich bin beeindruckt und freue mich, wenn ich nach Jahren eine glückliche junge Frau vor mir sehe, die ihr vorheriges maskulines Aussehen abgestreift hat, und ich sagen
kann: Du wirkst heute so viel selbstbewusster. Kompliment!